Rethink: Von Anfang an das Ende bedacht
Das lineare Wirtschaftsmodell zeichnet sich durch die einmalige Nutzung von Rohstoffen und deren anschließender Entsorgung am Ende des Produktlebens aus. In der Kreislaufwirtschaft hingegen werden Bauteile und Materialien beispielsweise durch Wartung und Reparatur, Aufbereitung und Weiternutzung oder Recycling soweit möglich wiederverwendet. Audi orientiert sich in der Kreislaufwirtschaft an den Prinzipien Reduce, Reuse und Recycle und verfolgt die Ambition, den Anteil von Sekundärmaterial in Neufahrzeugen stetig zu erhöhen. Mit der nächsten Generation von Elektroautos auf Basis der Scalable Systems Platform (SSP) will Audi verstärkt auf sogenanntes Post-Consumer-Material setzen. Das recycelte Material stammt größtenteils aus Produkten, welche bereits von Endverbrauchern genutzt wurden. Deren Recycling ist aufgrund einer notwendigen Demontage und der Sortierung des Materialmixes deutlich anspruchsvoller als das von Post-Industrial-Materialien, die wiederum aus industriellen Produktionsabfällen stammen, zum Beispiel Verschnitten. Post-Industrial-Materialien werden in der Regel sortiert und separat gesammelt, sodass ihre Materialzusammensetzung bekannt ist. Das macht die Verarbeitung zu Post-Industrial-Rezyklat vergleichsweise einfach. Deshalb sind diese Rezyklate in der Regel von hoher und gleichbleibender Qualität. Vor diesem Hintergrund ist das Ziel von Audi, auf Post-Consumer-Rezyklat zu setzen und dabei die Qualität des Ursprungsmaterials zu halten (Vermeidung von Downcycling), umso ambitionierter.
Das Rethink-Prinzip setzt noch deutlich vorher an, nämlich in der frühen Phase der Produktentwicklung – mit „Design for Circularity“. Bauteile, deren Entwicklung dieses Prinzip befolgt, werden bereits in der Konzeptionsphase auf eine spätere Kreislauffähigkeit ausgelegt. Bei derartig entwickelten Bauteilen werden Eigenschaften wie die Fähigkeit zur Demontage, Reparatur, Wartung und zum Recycling von Anfang an mitbedacht. „Es geht dabei um viel mehr als ‚nur‘ Design“, sagt Christine Maier, Designerin im Bereich Colour & Trim der AUDI AG. „Wir verändern die Herangehensweise, wie wir Fahrzeuge entwickeln. Unser Ausgangspunkt ist das Ende: Wir denken bereits vor dem Start eines Produktlebenszyklus an sein Ende und wie wir es kreislaufgerecht gestalten können.“
Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, kommen Experten aus allen Bereichen des Unternehmens in interdisziplinären Arbeitsteams zusammen. Die Mitglieder stammen beispielsweise aus dem Design, der Technischen Entwicklung, der Beschaffung oder der Unternehmensqualität. Sie arbeiten daran, dass Bauteile und Materialien möglichst oft wieder eingesetzt und recycelt werden können.
Möglichst früh an den Kreislauf denken: Zum Beispiel beim Sitzbezug
Wie sieht die Zusammenarbeit dieser interdisziplinären Teams in der Praxis aus? Hier hilft der Blick auf ein Bauteil, ohne das kein Auto auskommt: den Sitzbezug. Wenige andere Bauteile im Innenraum eines Fahrzeugs werden so strapaziert und sind zugleich von so hoher Bedeutung für den Komfort der Insassen.
Ein Autositz setzt sich zusammen aus Unterkonstruktion, Sitzpolster und Sitzbezug. Für den Sitzbezug wird die Sitzoberfläche mit einer Unterware verklebt. Die Verbindung dieser unterschiedlichen Lagen verleiht dem Sitzbezug Stabilität. So hält er lange seine Form. Bisher gehört es in der Automobilindustrie zum Standard, dass der Sitzbezug aus mehreren Materialfamilien zusammengesetzt ist. Der Stoff der Sitzoberfläche besteht in der Regel aus Polyester und wird mit einer Unterware, meist Polyurethan (PUR)-Schaum, verklebt.
Günther Ernst ist in der Technischen Entwicklung im Bereich Innenverkleidung für die Materialentwicklung von Textilien zuständig: „Das Problem: Es handelt sich bei dieser Verbindung um zwei unterschiedliche Materialgruppen. Diese lassen sich für ein späteres Recycling nur schwer voneinander trennen, wenn der Sitz sein Lebensende bei normaler Nutzung in zwei oder drei Jahrzehnten erreicht hat. Die sortenreine Trennung der Materialgruppen ist für die Kreislaufführung jedoch entscheidend.“
Materialien sind sortenrein, wenn sie aus einer Materialfamilie stammen. Es ist deutlich aufwendiger, Materialverbünde zu recyceln, da sie sich im Recyclingprozess nur schwer voneinander trennen lassen. Verunreinigungen, die durch die Vermischung verschiedener Materialien entstehen, beeinträchtigen den Recyclingprozess negativ und können letztendlich zu einem Downcycling führen. In diesem Fall wäre das Endprodukt des Recyclings von minderer Qualität im Vergleich zum Ausgangsprodukt. Um dies zu vermeiden, sollten Produkte so konzipiert sein, dass Materialverbindungen möglichst leicht voneinander gelöst werden können, oder es sollten Monomaterialien verwendet werden, die gar nicht erst getrennt werden müssen.
Am Beispiel der Sitzbezüge wird deutlich, wie Audi in Zukunft die Verwendung sortenreiner Bauteile im Fahrzeug vorantreibt. Ein neu entwickelter Sitzbezug von Audi besteht aus einer Materialfamilie (Monomaterial). Die Sitzoberfläche, der Kleber und die Unterware (Faservlies) sind aus Polyester gefertigt. Hinzu kommt, dass die Sitzoberfläche und die Unterware bereits einen hohen Anteil an recyceltem Polyester aufweisen. Dank der Monomaterialität lassen sich Verschnitte, die während der Produktion des Sitzbezugs entstehen, direkt recyceln. Die Verschnitte werden geschreddert, eingeschmolzen und können zu neuem Garn verarbeitet werden, welches die Basis für neue Sitzbezüge ist. Am Ende ihres Produktlebens sollen Sitzbezüge dieser Art in den Kreislauf zurückgeführt werden. Die Rohstoffe des Sitzbezugs können drei bis fünf Mal recycelt werden, anstatt nur ein Mal wie bei herkömmlichen Bezügen.
Günther Ernst aus der Technischen Entwicklung ergänzt: „Wir haben das einmal hochgerechnet. Mit dem Recycling der sortenreinen Verschnitte aus der Sitzbezugproduktion könnte Audi pro Modell und Jahr circa 160.000 Quadratmeter an Textilmaterial einsparen. Das sind rund neun Tonnen Material pro Jahr und Modell. Da ließe sich jetzt entgegnen: ‚Diese Menge produziert ein großer Textillieferant in etwa an einem Tag.‘ Es ist ein Anfang. Das wahre Potenzial wird deutlich, wenn wir uns vorstellen, was passiert, wenn wir das Konzept auf andere Bauteile übertragen.“
Christine Maier: „Als Automobilhersteller tragen wir – und damit auch ich als Designerin –Verantwortung, die über die reine Ästhetik hinausgeht. Sicher, ein Sitz der Zukunft muss mindestens ebenso gut aussehen und komfortabel sein wie sein konventioneller Vorgänger. Aber er muss eben auch leichter zu recyceln sein.“
Kreislauf und Qualität
Kreislauf und Qualität
Der neu entwickelte Sitzbezug aus Monomaterial muss darüber hinaus, ebenso wie konventionelle Sitzbezüge auch, Kriterien wie Kosteneffizienz, Gewicht und Qualität erfüllen. Wenn es um Qualität geht, kommt Jürgen Frank ins Spiel. Er arbeitet in der Unternehmensqualität und sichert die Qualität der Textilien im Innenraum der Autos von der frühen Entwicklungsphase bis zum finalen Einsatz im Fahrzeug. Der Ingenieur stellt seit 20 Jahren für Audi in Zusammenarbeit mit Lieferanten sicher, dass die Qualität der Textilien einwandfrei ist. Erst wenn er die sogenannte werkstoffliche Freigabe erteilt, darf der Lieferant produzieren. „Es gibt circa 30 Faktoren, auf die wir Sitzbezüge prüfen, zum Beispiel Festigkeit, Dehnbarkeit, Lichtechtheit und Verschleiß.“ Welche Anforderungen werden an die Qualität des neu entwickelten sortenreinen Sitzbezugs gestellt? „Ich mache keinen Unterschied bei der Qualität von kreislauffähigen oder konventionellen Materialien. Ein Audi Sitz muss funktionieren, egal wie er konzipiert wurde. In den Qualitätstests müssen die neu entwickelten Sitzbezüge genauso gut abschneiden. Das sind wir unseren Kunden schuldig“, sagt Jürgen Frank.
Das Team arbeitet daran, den Materialmix des gesamten Sitzes in kommenden Entwicklungsstufen immer weiter zu reduzieren. Beispielsweise sollen in Zukunft die Verbindungselemente zwischen Sitzbezug und Sitzpolster ebenfalls aus Polyester gefertigt sein.
Verkleidungselemente im Interieur: sortenrein und premium
Grundsätzlich lassen sich Bauteile aus sortenreinen Materialien leichter recyceln. „Doch diese Monomaterialbauteile, beispielsweise aus Polypropylen-Spritzguss in der Türinnenverkleidung, besitzen eine harte Oberfläche und entsprechen nicht immer unserem Premiumanspruch an ein weiches Oberflächenerlebnis“, sagt Kai Schauerte, Value Engineer, Audi Beschaffung. Sortenreine Bauteile mit Premiumanmutung herzustellen ist eine Herausforderung, welche die AUDI AG jetzt gelöst und die Lösung zum Patent angemeldet hat: Die neuen Innenverkleidungen haben, ebenso wie klassische Bauteile, einen mehrschichtigen Aufbau. Jedoch stammen alle Schichten (Träger, Weichkomponente und Oberfläche) aus einer Materialfamilie und sind somit sortenrein. „Bauteile, die nach diesem Verfahren hergestellt wurden, können als Rohstoffe wiederverwendet werden. Sie dienen als Ausgangsmaterial für Bauteile im Fahrzeuginnenraum mit der gleichen Wertigkeitsstufe. Ein Novum in der Automobilindustrie.“ Außerdem soll auch bei dieser Herstellungsform die Möglichkeit bestehen, zwischen verschiedenen Oberflächen (z. B. Textilien oder Kunstleder) zu wählen, um dem Kunden weiterhin die gewohnte und hochwertige Auswahl bei der Gestaltung des Fahrzeuginnenraums zu geben.
Nicht im Kreis drehen, sondern Zukunft gestalten
„Design for Circularity“ stellt Bestehendes infrage und erfordert ein Umdenken in der Art und Weise, wie Produkte entwickelt und hergestellt werden. Christine Maier, Günther Ernst, Jürgen Frank und Kai Schauerte möchten dem Rethink-Prinzip zu möglichst hoher Durchschlagskraft in der Entwicklung und Produktion von Audi Bauteilen verhelfen. Dafür benötigen sie Mitstreiter. Diese müssen verstehen, wie sie sich bestmöglich einbringen können und welchem Plan sie folgen sollen. Leitfäden und Web Based Trainings geben entwickelnden Bereichen im Unternehmen Hilfestellungen und vermitteln Wissen zum „Design for Circularity“.
Die Designabteilung von Audi hat bereits ein internes Handbuch zum nachhaltigen Gestalten mit Best Practices erarbeitet. Darin ist beschrieben, wie Bauteile weniger Ressourcen verbrauchen, verbaute Materialien für die Produktion wiederverwendet werden können und bei der Herstellung weniger CO₂ verursacht wird. Entwicklern wird über detaillierte werkstoffbezogene Leitfäden Unterstützung bei der Auswahl kreislauffreundlicher Materialien oder Verbindungstechniken gegeben – zum Beispiel durch die Verwendung von Monomaterialien, von gut trennbaren Materialverbünden oder zerstörungsfreien Verbindungstechniken, die eine Demontage erleichtern. In Zusammenarbeit mit Polymerexperten wurden ein weiterer Leitfaden und ein Web Based Training zur recyclinggerechten Produktentwicklung von Kunststoffbauteilen erarbeitet. Der Leitfaden ist auch für Lieferanten verbindlich. Weitere Unterlagen für andere Materialien sind in der Entstehung.
Darüber hinaus soll in Zukunft die Kreislauffähigkeit von Bauteilen und Fahrzeugen mess- und vergleichbar gemacht werden. Dank dieser Methodik könnte Audi in einem zweiten Schritt die Kreislauffähigkeit neuer Fahrzeuge sowie darin eingesetzter Bauteile optimieren.