Ein Outing kann zum beruflichen Schub werden
“Die Welt ist noch nicht in Ordnung.”
Albert Kehrer, heute ist der Internationale Coming Out Day. Was halten Sie bei PROUT AT WORK von solchen Motto-Tagen – sinnvoll oder sinnlos?
Albert Kehrer: Ganz klar sinnvoll. Es muss immer wieder thematisiert werden, wie schwierig es für viele Menschen ist, sich zu outen. Wir leben in einer Welt, in der Homophobie leider noch ein Thema ist. Die Hemmschwelle ist für Betroffene hoch, das zeigen auch die Zahlen: Rund 30 Prozent der schwulen und lesbischen Arbeitnehmer_innen sind am Arbeitsplatz nicht geoutet, bei den transgeschlechtlichen Menschen ist der Prozentsatz vermutlich noch viel höher. Der Weg ist also noch weit und die Welt noch nicht in Ordnung.
Wie weit ist die deutsche Wirtschaft in diesem Punkt? Und woran hakt es noch?
Albert Kehrer: Wir brauchen dauerhaftes Engagement, hier ist viel Luft nach oben. Viele deutsche Firmen tauchen ausschließlich bei Christopher Street Days auf, am besten mit einem bunten Rainbow-Produkt, das restliche Jahr hört man nichts von ihnen. Mitarbeitende, die vor der Entscheidung stehen, sich zu outen, müssen aber Vertrauen in ihren Arbeitgeber haben – deswegen wäre es wichtig, kontinuierlich zu LGBT*IQ-Themen zu kommunizieren. Nur, wer in seinem Job absolut authentisch sein kann, ist wirklich produktiv und schöpft sein persönliches Potenzial voll aus. Ein Outing kann wie ein beruflicher Schub wirken, ich habe selbst miterlebt, wie befreit, ehrgeizig und kreativ Kolleg_innen danach losgelegt haben. Sich verstecken zu müssen, kostet Energie. Das bedeutet auch für die Arbeitgeber verlorene Produktivität.
Outing am Arbeitsplatz: Welche Entscheidungshilfen bieten Sie bei PROUT AT WORK? Wie ist das Feedback auf Ihre Angebote?
Albert Kehrer: Die Nachfrage ist so enorm, dass wir sie kaum abdecken können. Wir gehen mit den Arbeitgebern ins Gespräch, insbesondere mit den HR-Abteilungen, machen beispielsweise Awareness-Workshops, sensibilisieren heterosexuelle Kolleg_innen. Es geht uns darum, einen Aha-Effekt zu erzeugen, Verständnis zu schaffen und zu zeigen, dass jede_r einen Beitrag leisten kann. Für LGBT*IQ-Mitarbeitende veranstalten wir Coming-Out-Seminare und bieten umfangreiche Informationen, etwa dazu, wen sie ansprechen und wie sie Sicherheit finden können. Audi haben wir eine entsprechende Tool-Box zur Verfügung gestellt und freuen uns, dass sie aktiv genutzt wird.
“Ich wünsche mir Top-Führungskräfte, die sich aktiv für das Thema einsetzen.”
Gibt es Punkte, in denen Sie sich von den Arbeitgebern mehr Engagement wünschen würden? Können die einzelnen Führungskräfte mehr tun?
Albert Kehrer: Ich wünsche mir Top-Führungskräfte, die sich aktiv für das Thema einsetzen – wie Stephan Meier hier bei Audi. Es muss ein Zeichen gesetzt werden, dass das Unternehmen sich dafür engagiert. Verbindlichkeit und Sichtbarkeit zählen. Je höher die Botschafter_innen in der Hierarchie sind, desto besser. Es muss klarwerden: nach dem Outing kann die Karriere genauso zünden, niemand darf dadurch Nachteile haben.
Können Sie einige Erfahrungswerte mit uns teilen – welche positiven Effekte konnten Sie nach einem Outing auf die Teams und jeweilige Arbeitskultur beobachten?
Albert Kehrer: Wer sich outet, hat Vertrauen in die anderen. Das stärkt den Teamzusammenhalt auf jeden Fall! Offenheit zahlt sich immer aus – nicht nur bei der sexuellen Orientierung oder Identität.
“Alle, die sich outen möchten, sollten psychologische Sicherheit finden.”
Gibt es Auswirkungen der momentanen Corona-Situation auf die Entwicklung? Etwa mehr Vereinzelung und weniger Öffnung der betroffenen Mitarbeitenden?
Albert Kehrer: Die Gefahr besteht, dass es in unsicheren Zeiten wie aktuell einen Rückschritt gibt. Menschen fallen in solchen Situationen gerne auf alte Muster zurück. Noch dazu will sich kaum jemand virtuell outen oder es fällt schwerer, solange man auf engem Raum intensiver zusammenleben muss, beispielsweise mit den Eltern. So eine Zerrissenheit ist psychisch extrem anstrengend. Gerade während eines Coming Out-Prozesses brauchen Betroffene viel Austausch – auch das ist virtuell schwieriger als von Mensch zu Mensch.
Wenn Sie den Mitarbeitenden, die sich mit einem Outing beschäftigen, eine Stimme geben könnten – was würden Sie uns in deren Namen sagen wollen?
Albert Kehrer: Es ist wert, sich zu outen! Das Leben ist so viel freier und einfacher. Ein Outing sollte immer und in jedem Unternehmensbereich möglich sein. Zeig, was Du kannst und wer Du bist, dann wird es funktionieren.
Stephan Meier, was ist der Hintergrund des Audi-Engagements bei der PROUT AT WORK-Foundation?
Stephan Meier: Als wir 2016 mit unserem Diversity-Management gestartet haben, war schnell klar, dass das Thema LGBT*IQ unbedingt dazu gehört. Wenig später hat sich das Mitarbeitenden-Netzwerk „queer@audi“ gegründet. Uns war bewusst, dass wir einen professionellen Partner brauchen, der mit uns gemeinsam diese Themen entwickelt, über viele Kontakte in verschiedene Branchen verfügt, kompetent beraten und sich auf die Gegebenheiten bei Audi einlassen kann. Die PROUT AT WORK-Expert_innen haben das von Anfang an mit großem Verständnis getan. Sie stehen für ein Vielfalts-Verständnis über alle Dimensionen hinweg, auch das hat uns überzeugt. Gleichzeitig legen sie den Finger in die Wunde, kritisieren konstruktiv Missstände und fordern uns. Das alles hat uns geholfen, LGBT*IQ-Belange stärker in unsere Unternehmenskultur einzubringen, auch wenn noch viel Arbeit vor uns liegt. Unser Ziel bleibt, den Konzerngrundsatz „Wir leben Vielfalt“ beständig mit Leben zu füllen.
“Es muss immer wieder thematisiert werden, wie schwierig es für viele Menschen ist, sich am Arbeitsplatz zu outen. Wir brauchen dauerhaftes Engagement und Verbündete im Unternehmen. Jeder_r Mitarbeitende kann Haltung zeigen und sich im Alltag stark machen.”
Was hat sich seit Beginn der Kooperation im Unternehmen getan? Womit sind Sie zufrieden, wo sehen Sie noch Potenzial?
Stephan Meier: Sichtbarkeit ist ein großer Punkt, da hat sich viel getan, was mich ermutigt. Ob es unsere Rolle als PROUTEMPLOYER ist, unsere Impulse bei Konferenzen, Beiträge in Diskussionsformaten oder auch im langfristigen Austausch mit anderen PROUT AT WORK-Partner_innen. Es geht darum, voneinander zu lernen und die nächsten Schritte vorzubereiten. Wir zeigen Haltung und sprechen öffentlich aus, was uns am Herzen liegt, was wir denken und vielleicht auch nicht jeder_jedem gefällt. Das gilt auch für die Mitarbeitenden, die sich über das queer@audi-Netzwerk bei öffentlichen Veranstaltungen zeigen und äußern. Im Unternehmen selbst brauchen wir aber definitiv noch mehr Verbündete, die uns dabei unterstützen, LGBT*IQ-Themen zu adressieren. Insbesondere in der Führungsebene muss ankommen, dass es aktuell noch ein Problem gibt und die Angst oft zu groß ist, sich am Arbeitsplatz zu outen. Es gilt, eine psychologische Sicherheit zu schaffen. Alle, die sich bei Audi outen möchten, sollten diese Sicherheit finden können.
Eine lang gewachsene Unternehmenskultur lässt sich nicht sofort verändern oder öffnen. Wie wollen Sie diese Situation angehen?
Stephan Meier: Beständigkeit ist wichtig. Die Themen immer wieder zu bespielen, keine Chance zu verpassen, sei es bei einer Stehdemonstration wie am Ingolstädter Christopher Street Day, über ein Engagement als „straight ally“, gemeinsame Events mit dem queer-Netzwerk oder einer Fotoaktion für Mitarbeitende mit unserem Diversity-e-tron. Wir sprechen bei Audi viel über Offenheit und Respekt, doch der Gradmesser muss immer sein, wie echt ist diese Offenheit? Sprechen wir wirklich ehrlich über diese Themen? Hier haben wir noch viel Nachholbedarf.