Mitten in der Transformation
Neue Sicht auf Mobilität
Wenn Jan Michel die Unübersichtlichkeit unserer Zeit in Worte fassen will, dann benötigt der promovierte Physiker dafür exakt vier Buchstaben: VUCA. Das Kürzel steht für Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity – Volatilität, Ungewissheit, Komplexität, Mehrdeutigkeit. Seit Juni 2020 ist Michel in der Funktion als Chief Transition Architect der Technischen Entwicklung (TE) bei Audi tätig. In Vorträgen, Artikeln und Gesprächen betont er immer wieder die eine Sache, die in dieser VUCA-Welt absolut sicher ist: Alles verändert sich.
Eine abstrakte Erkenntnis – doch für die TE-Mitarbeiter_innen ist sie konkreter Alltag. Etwa für Markus Zimmermann: Er hat Fahrzeug- und Motorentechnik in Stuttgart studiert, sein erster Job führte ihn 2012 als Entwickler zu Audi zur Bauteilentwicklung für Verbrennungsmotoren. „V8, V10, das war schon sehr reizvoll, diese großvolumigen Motoren“, sagt der 37-Jährige. „Aber schon als ich bei Audi anfing, war mir klar, dass ich nicht mein Leben lang an Verbrennern arbeiten werde.“ Heute liegt sein Hauptaugenmerk auf Elektrokomponenten von Hybridmodellen.
Vom Verbrenner zur E-Maschine, von Blech zu Bits
Die Gesellschaft hat heute eine ganz neue Sicht auf Mobilität. Die Umsätze der Branche werden sich verschieben – vom Verbrenner zum E-Antrieb, von Hardware- zu Softwarelösungen. „Die Zukunft der Mobilität ist vollelektrisch, vernetzt, hoch digital und vor allen Dingen nahtlos in das Leben unserer Kund_innen integriert. Dafür haben wir ganz neue Denk- und Arbeitsweisen in der Technischen Entwicklung eingeführt“, sagt Oliver Hoffmann, seit März 2021 Audi Entwicklungsvorstand.
Das Ziel ist klar: ein umfangreiches und lückenloses Ökosystem für elektrisch und automatisiert fahrende Autos. Dazu braucht es eine effiziente Herangehensweise bei der Entwicklung auslaufender Verbrenner und hochlaufender Elektrofahrzeuge. Und eine unverwechselbare Audi DNA für zukünftige Produkte. Oliver Hoffmann: „Wir wollen die Grundgenetik unserer Produkte ganz klar beschreiben: Wie sieht ein Audi der Zukunft aus? Wie fährt er und wie fühlt er sich an?“ Die Automobilindustrie befindet sich wohl in einer der herausforderndsten und spannendsten Dekaden ihrer Geschichte. Die Technische Entwicklung spielt dabei eine zentrale Rolle – sie steckt mitten in einer fundamentalen Veränderung. Und sie hat starke Antworten: ambitionierte Ziele, Begeisterung für Technologie und ein beherzter Kulturwandel.
"Die Zukunft der Mobilität ist vollelektrisch, vernetzt, hoch digital und vor allen Dingen nahtlos in das Leben unserer Kund_innen integriert. Dafür haben wir ganz neue Denk- und Arbeitsweisen in der Technischen Entwicklung eingeführt."
― Oliver Hoffmann, Mitglied des Vorstands der AUDI AG,
Technische Entwicklung
Ziele: Was wollen wir erreichen?
„Dass Elektro die Zukunft ist“, sagt Markus Zimmermann, „das hat sich schon länger abgezeichnet.“ Bereits seine Abschlussarbeit an der Uni schrieb er über Thermomanagement von Batterien. Inzwischen verfolgen fast alle Hersteller die Strategie, ihre Automobile künftig nur leise surren statt laut brummen zu lassen. Audi wird ab 2026 neue Modelle nur noch mit Elektroantrieb auf den Markt bringen – als Teil der Strategie „Vorsprung 2030“.
Noch wichtiger als Elektro aber ist die Vernetzung, die „Software Readiness“ aller Elemente. „Das Auto der Zukunft wird zum Mobile Device“, sagt Jan Michel. Dahinter steht eine Revolution im Verhalten der Nutzer_innen: Was einst dazu diente, schnell und bequem von A nach B zu kommen, soll demnächst Büro oder Kino oder Einkaufszentrum werden. Erst recht mit Einführung des automatisierten Fahrens. Wenn in Zukunft zeitweise die eigentliche Fahraufgabe entfällt, wird die Gestaltung und Ausstattung des Innenraums zum zentralen Kaufanreiz.
Von innen nach außen denken
Die TE ist darauf vorbereitet: Statt zuerst das äußere Design zu entwerfen, werden Autos künftig von innen nach außen gedacht. Das Interieur soll für Kund_innen zur Lebenswelt werden. Damit dominiert es die gesamte Gestaltung. Beispiel Licht: „Wir gehen weg vom bloßen Anzeigen und hin zur Kommunikation“, erklärt Dietmar Scherer, Leiter Strategie in der TE.
Um auf Augenhöhe mit den Bedürfnissen der Kund_innen und mit Technologiesprüngen zu bleiben, richtet die TE ihre Arbeit an einem neuen Leitgedanken aus: fortlaufende Entwicklung statt Denken in Zyklen. Statt auf einzelne Meilensteine wie den Produktionsstart hinzuarbeiten, agiert der Bereich wie eine Tech Company: Die Entwicklung eines Modells ist nie abgeschlossen, sondern wird ständig verbessert und aktuell gehalten, etwa durch Software-Updates. Und das mit den hohen Qualitäts- und Sicherheitsansprüchen der Marke Audi.
Matrixstruktur statt funktionaler Silos
Weiteres Kernprinzip: Systems Engineering. Dachten die Ingenieur_innen früher vor allem in Bauteilen, werden die Fahrzeuge jetzt in Systeme unterteilt, die sich an den relevanten Softwarelösungen orientieren. Ein Beispiel: Wurden die Blinker einst als eigenständiges Bauteil entwickelt, gehören sie heute zum System „Einparken“, in dem zahlreiche Funktionen wie Sensorik, Lenkung und eben die Blinker zusammenspielen müssen. „Wer Systems Engineering nicht verstanden und verinnerlicht hat, wird sich in unserer Branche in den nächsten Jahren schwertun. Egal, ob in der Technischen Entwicklung oder in an-deren Bereichen des Unternehmens – Systems Engi-neering geht alle etwas an“, verdeutlicht Jan Michel.
„Egal, ob in der Technischen Entwicklung oder in anderen Bereichen des Unternehmens – Systems Engineering geht alle etwas an.“
― Jan Michel, Chief Transition Architect der Technischen Entwicklung
Um Systems Engineering mit Leben zu füllen, gilt seit September 2020 die Formel: „Projekt führt, Linie setzt um.“ Das heißt: Die Baureihenstruktur, die für die Fahrzeugprojekte verantwortlich ist, entscheidet über das „Was“ und „Wann“ der Produkte, die TE ist zuständig für das „Wer“ und „Wie“. Als Bindeglied agieren Chefingenieur_innen, deren Position neu geschaffen wurde: Sie haben die technisch-inhaltliche Verantwortung und vergeben die Budgets.
Vorhandenes Wissen nutzen – und ausbauen
Wenn die Autos anders werden, müssen die Menschen, die sie entwickeln, andere Dinge können. „Uns ist wichtig, dass niemand bei der Transformation auf der Strecke bleibt. Wir setzen auf Weiterbildung“, erläutert TE-Stratege Dietmar Scherer.
Nicht selten liegt die Neuorientierung ganz nah. Ende 2019 etwa suchte die Batterieentwicklung in Ingolstadt Unterstützung – und Markus Zimmermann sagte zu. „Ich konnte sofort mein Wissen einbringen, zum Beispiel im Bereich der Fahrzeugtests, habe aber auch viel Neues gelernt“, erklärt er. Inzwischen arbeitet Zimmermann als Modulverantwortlicher für Batterien in Plug-in-Hybriden wie etwa dem Audi Q7 oder dem Audi Q8. Seine Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass die Batterien den im Lastenheft genannten Anforderungen und Sicherheitsbestimmungen genügen.
Audi Q7 TFSI e: Kraftstoffverbrauch (gewichtet kombiniert) in l/100 km: 1,4–1,2Stromverbrauch (gewichtet kombiniert) in kWh/100 km: 29,1–27,8CO₂-Emissionen (gewichtet kombiniert) in g/km: 33–28CO₂-Klasse (gewichtet kombiniert): BKraftstoffverbrauch bei entladener Batterie (kombiniert) in l/100 km: 10,5–9,8CO₂-Klasse bei entladener Batterie: G
Audi Q8 TFSI e: Kraftstoffverbrauch (gewichtet kombiniert) in l/100 km: 1,6–1,3Stromverbrauch (gewichtet kombiniert) in kWh/100 km: 30,4–28,0CO₂-Emissionen (gewichtet kombiniert) in g/km: 37–29CO₂-Klasse (gewichtet kombiniert): BKraftstoffverbrauch bei entladener Batterie (kombiniert) in l/100 km: 10,9–10,0CO₂-Klasse bei entladener Batterie: G
Audi Q7 TFSI e: Kraftstoffverbrauch (gewichtet kombiniert) in l/100 km: 1,4–1,2Stromverbrauch (gewichtet kombiniert) in kWh/100 km: 29,1–27,8CO₂-Emissionen (gewichtet kombiniert) in g/km: 33–28CO₂-Klasse (gewichtet kombiniert): BKraftstoffverbrauch bei entladener Batterie (kombiniert) in l/100 km: 10,5–9,8CO₂-Klasse bei entladener Batterie: G
Audi Q8 TFSI e: Kraftstoffverbrauch (gewichtet kombiniert) in l/100 km: 1,6–1,3Stromverbrauch (gewichtet kombiniert) in kWh/100 km: 30,4–28,0CO₂-Emissionen (gewichtet kombiniert) in g/km: 37–29CO₂-Klasse (gewichtet kombiniert): BKraftstoffverbrauch bei entladener Batterie (kombiniert) in l/100 km: 10,9–10,0CO₂-Klasse bei entladener Batterie: G
„Wir alle müssen flexibler, anpassungsfähiger und kooperativer werden. Das Kernelement unserer Kultur sind der Wille, die Ausdauer und die Entschlossenheit, neue Wege zu gehen.“
― Anna Gutzmann, Modulleiterin Kommunikation und Kultur
Tausende Trainings für die Zukunft
Zahlreiche Qualifizierungsmaßnahmen hat das Unternehmen im Angebot. Im Fokus stehen die Transformation und die dafür benötigten Zukunftskompetenzen der Mitarbeitenden. „Deshalb investieren wir in unsere Mitarbeitenden. Bis 2025 haben wir ein Fort- und Weiterbildungsbudget von bis zu 500 Millionen Euro bereitgestellt“, sagt Personalvorständin Sabine Maaßen, „zusätzlich investieren wir 100 Millionen Euro Transformationsbudget. So treiben wir die Personaltransformation von innen heraus und setzen auf unsere eigene Belegschaft. Besonders in der Technischen Entwicklung spielen diese Qualifizierungsprogramme eine wichtige Rolle.“
Allein im Jahr 2021 wurden aus der TE rund 6.000 Teilnehmende an transformationsrelevanten Qualifizierungen registriert. Von Softwareentwicklung und Data Analytics über Elektroantrieb und Ladetechnologie bis hin zu System- und Funktionsentwicklung sowie Systems Engineering: Viele weitere der rund 10.500 TE-Mitarbeiter_innen werden in den kommenden Jahren entsprechende Trainings oder Qualifizierungen erhalten – an der TH Ingolstadt, der Hochschule Heilbronn oder der TU München, beim TÜV Süd, in den Bereichs- und Konzernakademien sowie am Standort Neckarsulm, der zum Kompetenzzentrum für Elektromobilität und Hochvoltbatterien ausgebaut wird.
Seit 2018 wurden bereits rund 500 TE-Mitarbeiter_innen in vier bestehenden Hochschulprogrammen weiterqualifiziert. Auch Zimmermann hat ein speziell auf ihn und 20 Kolleg_innen seiner neuen Abteilung zugeschnittenes Programm an der TH Ingolstadt absolviert: Batterieaufbau und -management, Sicherheitsfragen, Wettbewerbsanalyse – insgesamt acht Vorlesungen plus Abschlussprüfung.
„Uns ist wichtig, dass niemand wegen der Transformation auf der Strecke bleibt. Wir setzen auf Weiterbildung.“
― Dietmar Scherer, Leiter Strategie in der Technischen Entwicklung
Ambitionierte Ziele
Für alle Maßnahmen gilt: „Wir wissen, dass wir ambitionierte Ziele haben. Um diese zu erreichen, gehen wir mit Augenmaß vor und nehmen unsere Mitarbeitenden frühzeitig auf diesen Weg mit“, sagt Edith Öchsner, Leiterin des Bereichs Steuerung von Ressourcen und Prozessen in der Technischen Entwicklung. Klar, aus einem Motorfachmann wird über Nacht kaum ein Hardcore-Coder – aber warum sollten Fahrwerksexpert_innen ihr Wissen nicht um das Feld elektrischer Antriebe erweitern? „Entscheidend ist ein Grundverständnis von technischer Entwicklung und den Prozessen im Unternehmen“, weiß Zimmermann, „dann kann man neue Inhalte schnell adaptieren.“
Transformation funktioniert nur mit Begeisterung, Motivation und Mut der Mitarbeitenden
Neue Technik, neue Zusammenarbeit, neue Qualifikationen – es ist ein gigantisches Unterfangen, das die TE gut für die Herausforderungen der Zukunft rüsten wird. Eines ist dabei ganz wichtig: Transformation ist vor allem Kopfsache.
Es geht darum, die Mitarbeitenden zu begeistern, sie mitzunehmen und sie zu motivieren, die Veränderung aktiv mitzugestalten. Denn: „Wir alle müssen flexibler, anpassungsfähiger und kooperativer werden“, sagt Anna Gutzmann, Projektleiterin Kommunikation und Kultur. Das fängt bei der Führung an: Top-down war gestern – in der Matrix geht es heute darum, sich abzustimmen und gemeinsam ein Ziel zu verfolgen. Das setzt sich fort in einem neuen Verständnis von Technologie: „Wir denken nicht nur darüber nach, das Auto zu verbessern. Wir wollen das Leben unserer Kund_innen verbessern und einfacher machen“, sagt Hoffmann. Technik ist schließlich kein Selbstzweck, „Meaningful Technology“ nennt es Audi. Erfolg in der Entwicklung bemisst sich also nicht mehr in Einzelfeatures, sondern im Gesamterlebnis der Kund_innen.
„Wir nehmen unsere Mitarbeitenden frühzeitig auf diesen Weg mit.“
― Edith Öchsner, Leiterin des Bereichs Steuerung von Ressourcen und Prozessen, Technischen Entwicklung
Offenheit für Neues
Und schließlich die Werte: Erfolg in der VUCA-Welt haben nicht Einzelkämpfer_innen, sondern Teams. Nicht das Beharren, sondern die Offenheit für Neues. „Kernelemente unserer Kultur sind Wille, Ausdauer und die Entschlossenheit, neue Wege zu gehen“, sagt Gutzmann.
Wie erfüllend neue Wege sein können, hat Markus Zimmermann bereits erfahren. „Beim Verbrennungsmotor hatte ich nicht das Gefühl, noch etwas grundlegend Neues beitragen zu können.“ Batterien hingegen sind im Vergleich ein Bauteil, bei dem noch viele Fragen offen sind: „Hier kann ich echte Pionierarbeit leisten.“ Ganz im Sinne des TE-Mottos: „Unsere beste Zeit kommt jetzt.“ Die Transformation hat gerade erst begonnen. Veränderung ist nun Tagesgeschäft.